Mutterbrüste in der Turnstunde?

Michael Franz

Seit geraumer Zeit ist es zu einem quasi manischen Brauch geworden, dass Kinder ihre heiß geliebte Trinkflasche zu Beginn einer Turnstunde – ob in der Schule oder im Verein – am Rande der Halle plazieren. Und es ist zu einer vermeintlich selbstverständlichen Unart geworden, dass Kinder mehr oder weniger spontan zumindest versucht sind, an den Rand rennen, um mal einen Schluck aus der Pulle zu nehmen. Nicht selten wird dabei das wertvolle Gut auch auf dem Boden verteilt, die bunten Flaschen werden auch mal umgestoßen oder in einer Ballspielstunde (mehr oder weniger) versehentlich umgeworfen oder umgeschossen.

Lehrkräfte und Trainer versichern mir, dass entrüstete Eltern unverzüglich ein Heer von Rechtsanwälten mobilisieren würden, sollte das mehr oder weniger ungezügelte Wassertrinken eingeschränkt oder gar verboten werden. Dazu möchte ich einige Gedanken teilen. 

Gleich an dieser Stelle: Genügend Wasser zu trinken, ist ganz zweifelsfrei für den gesamten Organismus elementar wichtig und vor allem auch für ein funktionierendes Gehirn.

Und genauso ist – auch wenn eher die Eltern als die Kinder protestieren würden – höchst unwahrscheinlich, dass ein Kind Schaden nimmt, wenn es sich einmal für eine knappe Stunde nicht am (hoffentlich) sauberen und zuckerfreien Nass laben könnte. Es kommt nämlich auf den Wasserhaushalt über den Tag insgesamt an. 

Seit über 20 Jahren beschäftige ich mich mit den vielfältigen Ursachen der zunehmenden und so genannten „Aufmerksamkeit-Defizite“, die vor allem bei Jungs überwiegend mit hyperaktivem Verhalten einhergehen. Standen früher ungeförderte oder verkannte Begabungen eher im Fokus meines Engagements, so geht es heute zunächst darum, den Teufelskreis aus Bewegungsmangel, Fehlernährung, Bildschirmkonsum und Schlafdefiziten zu durchbrechen.  

Nun, dieses Phänomen „ADHS“ wird neuerdings auch als „dysexekutives Syndrom“ bezeichnet, also als einen Mangel an den „exekutiven“ Funktionen, also den Denkfähigkeiten, die den Menschen zum Menschen machen. Zu diesen Funktionen zählt neben der Aufmerksamkeitslenkung und Konzentrationsfähigkeit, der Handlungsplanung oder auch einem situationsgerechten Umstellungsvermögen die Impulskontrolle. Will heißen: Wenn ein 2-jähriges Kind Hunger, Durst oder sonstiges Unwohlsein verspürt und dies lautstark kundtut, um dann genüsslich oder auch mal gierig etwas schluckt, ist das genauso altersgemäß wie wenn ein 4-jähriger der Lust am Süßen nicht wirklich widerstehen kann. Die Fähigkeit, die eigenen spontanen Impulse zu beherrschen, die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung aufzuschieben, ist ein Lernprozess in Richtung des Erwachsenwerdens. Was nicht unbedingt bedeutet, dass Erwachsene auf den kurzfristigen Konsum eines Tortenstücks oder die sofortige Reaktion auf ein Smartphonesignal verzichten könnten. Es wäre hier sicher zu wünschen, wenn hier ein längerfristiges Gesundheitsbewusstsein und -verhalten sich in bewusstem und moderatem Genuss zeigen würde.

Nun zurück zur Trinkflasche: Das Training der Impulskontrolle würde hier bedeuten, einmal für 45 Minuten auf das Nuckeln zu verzichten. Ja, ich habe schon beobachtet, wie Kinder verträumt an ihrer Flasche herumlutschen, obwohl garnichts mehr drin ist! Und genau das ist mein unwissenschaftlicher Verdacht: Das mehr oder weniger unkontrollierte Verhalten aktiviert den baby-haften Nuckelreflex, erinnert an die behagliche Mutterbrust, fördert also gerade nicht eine nach Unabhängigkeit und Selbstständigkeit drängende Verhaltensweise, sondern ein Verharren in infantiler Abhängigkeit. Die Getränke-Industrie wird dem eher nicht zustimmen. Schon wissenschaftlicher betrachtet, wird also die „orale (Konsum-)Phase“ quasi bis in das Jugend- und Erwachsenenalter verlängert. Auch dies zum profitablen Wohle der Süßwaren-Lobby. Übergewicht und Diabetes sowie neurologische Erkrankungen haben so ihre leicht nachvollziehbaren Ursachen. Wollen wir das wirklich so hinnehmen?

Es gibt übrigens sehr wohl sport- und gesundheitswissenschaftliche Auffassungen, die das Trinken während körperlicher Belastung sogar als kontraproduktiv einschätzen. Und die Ball-Profis auf dem Rasen, selbst die Marathonläufer in der Hitze spülen eher nur den Mund aus oder gönnen sich einen ganz kleinen Schluck!

Was wäre zu tun?

Aufklärung ist das eine, die Notwendigkeit des Wassertrinkens während der Sportstunde darf durchaus einmal hinterfragt werden.

Und praktisch? Es wäre schon ein sehr wirkungsvoller (Zwischen-)Schritt, das Heer an Trinkflaschen in die Umkleidekabine zu verbannen, um dann kollektiv eine oder auch mal zwei kurze Pausen dort einzulegen. Gegen diese Vorgehensweise dürften selbst vernünftige Eltern und gewiefte Juristen nicht wirklich etwas einzuwenden haben.