Anlässlich der aktuellen Virus-Dramatik wird von manchen ein späterer Schulbeginn vorgeschlagen, um die Begegnungsdichte in der „rush hour“, in Bussen und Bahnen zu vermindern – offensichtlich vergeblich, da sich die Vertretungen der Lehrkräfte dagegen aussprechen. Und sicher würde das auch einen erheblichen Organisationsaufwand bedeuten.
Jedoch: Unter den vielfältigen Faktoren, die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen verursachen oder verstärken können, wird der Schlafmangel ganz sicher unterschätzt. Gleichzeitig wäre er relativ leicht und vollständig kostenlos auszugleichen. Die Forderung ist also völlig unabhängig von den gegenwärtigen Verwirrungen sehr berechtigt. Schauen wir uns das etwas genauer an:
Der Schulbeginn in Deutschland, auch in der Schweiz und Österreich, dürfte sich bei 08.15 Uhr einpendeln, gelegentlich später, oft früher. Nehmen wir an, das Kind wird nicht mit dem Auto vor die Pforte gebracht, was ja bekanntlich ein werktägliches Chaos verursacht, dann verlassen die Schüler wohl gegen 07.30 das familiäre Nest; wenn sie schulnah wohnen, auch mal später. Wenn sie mit dem Bus anfahren, auch deutlich früher.
Kurzum: Die Mehrheit der Schülerschaft wird wohl gegen 06.30 aus dem Schlummer geweckt. Wenn das per neben dem Bett liegenden Smartphone passiert, ist das nochmal ein anders Thema.
Bei Teenagern ist es allerdings so, dass sich der „zirkadiane“ Rhythmus nach hinten verschiebt, teilweise bis zu 3 Stunden!
Ist der frühe Schulbeginn dann gesund? Ist das vernünftig? Ist das lernfreundlich? Nein, das ist verrückt und ungesund!!!
Es gibt Berufe, in denen man sehr früh aufstehen muss, der Bäcker als Klassiker, aber auch viele Schichtarbeitende. Wobei das in der Regel wochenweise gilt und auch dann schon mit diversen Krankheitsbildern einher gehen kann…
Schüler müssen das aber jede Woche, jeden Schultag leisten! Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie täglich um – sagen wir mal – 4.30 Uhr aufstehen müssten? Wären Sie dann froh gelaunt, tatkräftig, lerneifrig, sozialverträglich, konzentriert? Wohl kaum.
Wenn wir dann zurück rechnen – und bleiben wir nur mal bei 06.30 Uhr Aufstehzeit und einem Schlafbedürfnis von durchschnittlich 9 Stunden (manche brauchen auch 10!): Dann müsste das Kind um 21.30 Uhr ins Bett.
Das dürfte machbar sein, gäbe es da nicht diese spannenden Endgeräte, die der Zirbeldrüse per Blaulicht signalisieren, dass es noch heller Tag ist … welche dann die Produktion des Schlafhormons Melatonin einstellt – also: : UM 21.30 Uhr offline einschlafen oder eben um 19.30 jeglichen Bildschirm meiden.
Das gelingt wohl einer Minderheit von problembewussten und konsequenten Grundschuleltern, spätestens ab Pubertät können wir das vergessen. Nach meinen ganz persönlichen Erfahrungen wird das Smartphone eher um 23.00h „neben das Kopfkissen gelegt“ – und manche schreiben auch um 01.30 nochmal was in die Chatgruppe…
Was macht dieser chronische (!) Schlafmangel mit dem jungen Gehirn?
Die Gefahr für das Entstehen dauerhafter psychischer Störungen wie Depressionen, Angstzuständen, Wahrnehmungsstörungen bis hin zu Schizophrenie oder Suizidgedanken steigt – und es dürfte nachvollziehbar sein, dass sich die Wahrscheinlichkeit von „AD(H)S“ deutlich steigert: Erhöhte Ablenkbar- und Reizbarkeit, Konzentrationsdefizite, Lernprobleme. Die verminderte Schlafquantität und vor allem -qualität führt auch leicht zu einer Sauerstoffunterversorgung des Gehirns und kann die so wertvolle „Non-REM-Schlafphase“ verkürzen oder gar verhindern; das ist die Phase, in der die Lernimpulse des Vortages sortiert und „in der richtigen Schublade“ abgelegt werden sollen.
Welcher Arzt kommt aber auf die Idee, bei solchen Symptomen nach den Schlaf- und Smartphonegewohnheiten zu fragen? Statt dessen wird mit leichter Hand oft ein Medikament verschrieben, das die Konzentration fördert – und das ganze Dilemma noch verschärft. Denn: Amphetamine und Methylphenidat, die üblichen Mittel, zählen zu den stärksten schlafhemmenden Mitteln – ist das nicht toll, aber für wen? Für die Lernenden sicher nicht!
Nun, warum ist das alles noch so, obwohl schon lange von einigen Initiativen ein späterer Schulanfang gefordert wird? Es ist die Folge einer industrieorientierten Taktung – Papa und auch Mama müssen ja am Fliessband, im Büro, an der Verkaufs- oder Praxistheke stehen …
Dass wir uns längst im post-industriellen Zeitalter befinden, dass viele Berufsfelder flexible Arbeitszeiten anbieten oder gar „HomeOffice“ ermöglichen, interessiert offenbar nicht. Statt dessen werden Gesundheit und Lernvermögen von Millionen von Kindern geopfert – die Abwärts-Lernspirale „wider besseres Wissen“ weiter und schneller gedreht…
Wesentliche Quelle: „Das grosse Buch vom Schlaf“ von Dr. Matthew Walker, Professor für Neurowissenschaften und Psychologie an der University of California, Berkley. GOLDMANN-Verlag 2018