Seit über 20 Jahren beschäftige ich mich nun mit dem Phänomen des Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Defizit-Syndroms. Einmal abgesehen davon, dass schon dieser Begriff in die Irre führt, denn genau genommen handelt es sich um einen Mangel an Konzentrationsvermögen (oder – bereitschaft); die betroffenen Kinder „kriegen ja alles mit“ – sind also extrem aufmerksam …
Also abgesehen davon, besteht für mich kein Zweifel, dass es sich hier um eine „multifaktorielle“ Angelegenheit handelt – und u.a. Bewegungsmangel, Fehlernährung/Überzuckerung, Medienkonsum und Schlafmangel eine Rolle spielen. Oder nicht erkannte Begabungen oder der Verlust an ursprünglichen Spielerlebnissen – auch ein spannendes Thema ist, wie Jaak Panksepp erforschte.
Heute gehe ich zunächst vorsichtig einer Spur nach, die möglicherweise sehr viel tiefer geht und von zentraler Bedeutung ist. Um meine Vermutungen abzusichern oder zu verwerfen, bin ich für entsprechende Kommentare, Erfahrungsberichte u.ä. schon jetzt dankbar! Starten wir?
Mitunter – z.B. auf Seminaren – mache ich mir einen Spass und frage, woher eigentlich dieser „neue“ Trend und Begriff des „Mentoring“ kommt. Die meisten tippen da auf die Verwandtschaft zum „Mentaltraining“ – leider falsch!
„Mental“ kommt aus dem lateinischen „mens, mentis“, was Geist, Vernunft bedeutet – Mentaltraining beschäftigt sich also mit den „Exekutiven Gehirnfunktionen“ würden wir heute sagen…
„Mentor“ hingegen war eine Gestalt in der griechischen Mythologie, ein Freund des Odysseus, der dessen Sohn Telemachos quasi als väterlichen Förderer betreute. Odysseus hatte derweil im Trojanischen Krieg zu tun.
Ein Mentor ist also etwas anderes, ganz anderes als ein Trainer oder auch als ein Coach! Vereinfacht ausgedrückt, würdigt ein Mentor einen jungen Menschen in seinen Fähigkeiten, Idealen und Potentialen, lässt die Zügel möglichst locker (zwecks Selbstbestimmung), zieht diese aber auch streng an, wenn der Jüngling über die Stränge schlägt. Es ging also nicht nur um Leistung, sondern auch um Werte und Charakterbildung.
Und: Könnte so ein Phänomen wie das „Jungen-AD(H)S“ eventuell etwas zu tun haben damit, dass Söhne und Väter sich nicht in einer Weise begegnen, die die wahren Bedürfnisse beider berücksichtigt – auch Träume, Wünsche und Verletzungen?
Könnte es sein, dass „hyperaktives“, auch rebellisches, verweigerndes oder aggressives Verhalten (in Wort und Tat) Ausdruck eines „Vaterhungers“ sind, wie es Richard Rohr, der US-amerikanische Franziskanerpater nennt?
Könnte es sein, dass die häufige Abwesenheit des Vaters, gar die Trennung oder der vollständige Verlust, die Ur-Sache von Verhaltensauffälligkeiten sind, die dann sekundäre Faktoren wie Bewegungsdrang, Grenzverletzungen etc. zur Folge haben?
Könnte es sein, dass das „heilige JA*“ der Weiblichkeit – Fürsorge, Güte, Zärtlichkeit, Loslassen – wirkungslos bleibt, wenn nicht auch das „heilige NEIN*“ einer gesunden Männlichkeit – Bestätigung, Herausforderung, Grenzsetzung – ausbleibt?
Könnte es sein, dass die soziale und vor allem ökologische Katastrophe, die global um sich greift, schlicht resultiert aus einem übermässigen und ungesunden Streben nach äusseren, materiellen Produkten, nach Karriere und Status, legalen und illegalen Drogen, Medaillen und Macht (auch über Frauen) – weil die innere Reise zu wahrer Männlichkeit* nicht angetreten werden darf, kann oder will?
In meiner Arbeit für Jungs und deren Familien nehme ich vor allem Faktoren wie Bewegungsmangel, Fehlernährung, Medienkonsum und Schlafmangel in den Blick – denn hier werden oft schnelle Erfolge sichtbar!
Auch die (fehlende) Motivation, die (falsche) Lernstrategie und verborgene, nicht entfaltete Potentiale… all das kann ein Phänomen wie „AD(H)S“ verstärken – aber auch wirklich verursachen?
Immer stärker drängt sich mir der Verdacht auf, dass diese „Vaterwunde*“ in sehr, sehr vielen Fällen der wirkliche Punkt ist. Denn – und das ohne Schuldzuweisung!: Wie sieht die Lebenswirklichkeit der Jungs heute in den ersten 10 bedeutenden Lebensjahren aus?
Der Vater oft oder ganz weg, die weniger oder mehr allein erziehende Mutter überarbeitet und dann eben eine Übermacht von Frauen in den KiTas und Grundschulen – wie soll da eine ausgewogene Erfahrung und Entwicklung von Identität, Selbstwert und Zuversicht gelingen?
Um mit den Gedanken des Neurobiologen Gerald Hüther zu spielen: Was es für eine gelingende Erziehung und Bildung braucht, sind im Wesentlichen nicht Computer und kleinere Klassen an sich. Es sind vielmehr die Erfahrungen von Geborgenheit und Verbundenheit (weibliche Energie) und eben auch von Selbstbestimmung und Gestaltungsfreiheit (männliche Energie).
Gerade hier hätten übrigens Übungsleiter und Trainer in den populären Spiel- und Teamsportarten wie Fussball, Handball, Uni-Hockey eine riesige und bedeutende Aufgabe – und diese nehmen sie ja auch engagiert wahr. Die Frage Hüthers hier ist nur, ob der nachwachsende Sportler wirklich als Subjekt seines eigenen Weges gewürdigt oder – und das ist auch nicht gerade selten – als Objekt und damit Opfer der Ziele von Trainern, Vereinen, Verbänden, auch der unerfüllten Wünsche von Vätern und Müttern wird.
Zur Vermeidung von Missverständnissen: Auch Töchter brauchen ihre Väter – wenngleich irgendwie anders. Auch Mädchen verdienen selbstverständlich eine Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse und Förderung ihrer Potentiale.
Jedoch und seit Jahrzehnten liegt die Problematik und Dramatik auf der Seite der Jungs – und das eigentlich nur, weil wir sie nicht so wirklich verstehen… oder verstehen wollen.
Kurz in eigener Sache: Auch ich bin sicher nicht am Ende der Reise zu einer reifen und souveränen Männlichkeit. Aber zumindest hoffe ich, das Ziel zu erkennen und auf einem guten Weg zu sein…
*Begriffe von Richard Rohr, Autor u.a. von „Die Männerbibel“, KÖSEL-Verlag
Weitere Buch-Tipps:
Gerald Hüther/Christoph Quarch: „Rettet das Spiel“, HANSER
G. Hüther: „Würde“, PANTHEON