«Das Können allein gibt auf Dauer keine Befriedigung»

Interview von Mathias Morgenthaler mit Sir Ken Robinson (1950-2020) – veröffentlicht am 12.04.2014

Karriere oder Selbstverwirklichung? Ken Robinson hat sich nie für das eine und gegen das andere entschieden. Seinen Interessen folgend, wurde er zu einem weltweit gefragten Experten in Bildungsfragen – geadelt durch den Ritterschlag von Queen Elisabeth II. Robinson kritisiert, viele Schulen seien heute noch wie Fabriken organisiert, zugeschnitten auf die Bedürfnisse der Industriegesellschaft.

Herr Robinson, Sie beschreiben in Ihrem neuen Buch*, wie es gelingt, nicht nur einen Job zu machen, sondern begeistert zu leben und zu arbeiten. Worauf kommt es dabei primär an?

KEN ROBINSON: Wichtig ist, nicht nur darauf zu achten, was man gut kann, sondern auch zu berücksichtigen, was man wirklich gerne tut. Ich treffe im Berufsalltag so viele Menschen, die hoch kompetent sind in dem, was sie tun – nur geht ihnen leider jegliche innere Leidenschaft ab. Auf Dauer gibt es keine Befriedigung, etwas gut zu können, wenn man es nicht gleichzeitig liebt, wenn es nicht unser inneres Feuer nährt.

Für Kinder ist es der Normalzustand, etwas mit Leidenschaft zu tun – warum bleibt die Begeisterung später bei vielen auf der Strecke?

Als Kinder sind wir stark auf uns selbst bezogen und praktisch frei von Pflichten. Erst mit der Zeit entwickelt sich das Bewusstsein, dass wir nicht das Zentrum der Welt sind, sondern dass wir uns in einem Umfeld bewegen, das Erwartungen an uns hat und Anpassung erfordert. Die grosse Gefahr besteht darin, dass wir uns zu stark von den Erwartungen anderer und von unserer Angst, zu scheitern und jemanden zu enttäuschen, leiten lassen. Bei manchen Menschen kann man von aussen beobachten, wie sie sich mehr und mehr von ihrem Kern entfernen, während sie den Pflichten hinterherlaufen. So verlieren sie erst das Interesse und dann die Hoffnung auf ein erfülltes Leben. Viele versuchen diese schmerzhafte Entfremdung mit materiellem Erfolg und Status zu kompensieren, aber diese Dinge schützen nicht vor Ernüchterung und depressiver Verstimmung. Aber ich kenne auch viele Erwachsene, die jeden Tag mit grossem Enthusiasmus zu Werke gehen.

Was zeichnet diese Menschen aus?

Sie vertrauen auf ihre Phantasie und Kreativität. Leider wird diese Fähigkeit nicht sehr gefördert, von vielen Eltern nicht und schon gar nicht von der Schule. Unser Schulsystem wurde in seinen Grundzügen in der Aufklärung konzipiert, es funktioniert nach der Fliessbandmentalität und passt perfekt ins Industriezeitalter. Die Schulen sind heute noch organisiert wie Fabriken: Das beginnt bei der Architektur, findet seine Fortsetzung in der Pausenklingel, in der strikten Aufteilung der Fächer und Einteilung nach Alter – als wäre das «Produktionsdatum» der wichtigste gemeinsame Nenner von Schülern. Alles läuft auf Konformität und Standardisierung hinaus. Die Schüler werden mit Wissen versorgt und lernen, dass es jeweils genau eine richtige Antwort gibt auf jede Frage.

Damit tun Sie vielen Schulen unrecht.

Mir ist klar, dass in manchen Schulen hervorragend gearbeitet wird, altersübergreifend, in Gruppen. Aber die Mehrheit der Schulen trägt wenig bei zum Wachstum der Persönlichkeit und zur Fähigkeit, kreativ mit Herausforderungen umzugehen. Was brauchen wir denn heute für Fähigkeiten? Müssen wir Akademiker sein und über lückenloses Faktenwissen verfügen? Eine der wichtigsten Fähigkeiten ist es, eine Fragestellung aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, sprich: divergent zu denken. Das ist die Grundvoraussetzung für Kreativität und Innovation. Fördert die Schule dies? Im Gegenteil. Für die Längsschnittstudie «Break Point and Beyond» wurden 1600 Kinder im Kindergarten gefragt, wie viele Verwendungszwecke es für eine bestimmte Sache gibt. Das Resultat: 98 Prozent der 5-jährigen Kinder zeigten so viel Phantasie, dass man sie als Genies in divergentem Denken bezeichnen kann. Fünf Jahre später fielen gerade noch 32 Prozent in diese Kategorie. Im Alter von 14 Jahren waren es nur noch 10 Prozent, der grosse Rest antwortete sehr uniform.

Und Sie folgern daraus, dass die Schule unser Potenzial, kreativ zu sein, auf ein Minimum herabsenkt?

Das ist vermutlich der Preis, den wir für Konformität und Standardisierung bezahlen. Und dafür, dass wir den Unterricht immer stärker darauf ausrichten, was auf dem Arbeitsmarkt vermeintlich gefragt ist. In vielen Ländern werden die musischen Fächer mehr und mehr aus dem Stundenplan gestrichen: Musik, Film, Tanz, Literatur, Theater, all diese Themen, die unsere ästhetische Erfahrung erweitern und all unsere Sinne ansprechen, haben einen schweren Stand. Und gleichzeitig wundern wir uns, dass unsere Kinder Mühe haben, sich zu konzentrieren und dem Unterricht zu folgen. Natürlich leben sie in einer reizüberfluteten Welt, aber hat die rasante Verbreitung der Aufmerksamkeitsdefizit-Störung ADHS auch damit zu tun, dass die Schüler zu einseitig gefordert werden. Etwas überspitzt gesagt: Wir betäuben sie mit Ritalin, damit sie schadlos durch unser Schulsystem kommen. Mein Ansatz läuft darauf hinaus, sie aufzuwecken mit interessantem Stoff und zeitgemässen Unterrichtsformen.

Wie haben Sie nach der Schule Ihren Beruf und Ihre Berufung gefunden?

Ich hatte viele Interessen, aber keine Ahnung, was aus mir werden sollte. Auf der Schule gab es einen Berufsberater. Der riet mir, Zahnarzt oder Buchhalter zu werden, obwohl ich mich offensichtlich sehr für Englisch und Theater interessiert hatte an der Schule. Ich befolgte danach keine Ratschläge anderer, sondern achtete auf meine Interessen und auf Gelegenheiten. Offen gestanden hatte ich keinen Plan, aber ich wusste immerhin, was ich nicht wollte. So war mir klar, dass ich keinesfalls Theaterdirektor werden wollte, obwohl ich die Bühne sehr liebte. Mir gefiel das Theater, aber der Alltag der Theaterschaffenden wäre nichts für mich gewesen. Andere Jobs hätte ich gerne gehabt, bekam sie aber nicht – und begriff erst Jahre später, dass das gut war so. Wie sang der Country-Sänger Garth Brooks so schön: «Some of God’s greatest gifts are unanswered prayers.» Oft ergeben sich die besten Gelegenheiten dann, wenn ein Wunsch sich nicht erfüllt hat.

Braucht es nicht ein Ziel, eine Mission, einen roten Faden für die berufliche Laufbahn?

Doch, aber diese kristallisiert sich erst heraus, indem man seinen Neigungen, Interessen und den Opportunitäten folgt. Das Leben funktioniert nicht linear, sondern organisch. Bei vielem verstehen wir erst im Rückblick, warum es wichtig war. Ich habe mich früh für Schul- und Erziehungsfragen interessiert und konnte mich in meiner Dissertation ausführlicher damit beschäftigen. Später wurde es zu einem Teil meines Berufs. Indem wir unseren Interessen folgen und Gelegenheiten wahrnehmen, kreieren wir unser Leben – im Idealfall. Oft lassen sich Menschen leider von ihren Interessen abbringen, weil sie auf Leute hören, die ihnen sagen, was sie zu tun haben. Schliesslich leben sie ein Leben, das sie nicht wirklich gewählt haben.

Wenn Sie in einem Satz beschreiben müssten, wofür Sie täglich zur Arbeit gehen, wie würde dieser Satz lauten?

Ich bin seit 37 Jahren mit meiner Frau zusammen und wir sind längst nicht nur privat, sondern auch beruflich ein gutes Team. Vor ein paar Jahren haben wir uns angesichts der vielen Tätigkeiten mit den unterschiedlichsten Leuten gefragt, was eigentlich der gemeinsame Nenner ist. Da kristallisierte sich die Mission heraus, das Bildungssystem zu transformieren in Richtung eines umfassenderen Verständnisses von menschlichen Fähigkeiten und Kreativität. Das betrifft nicht nur die Schule, sondern unsere ganze Gesellschaft. Wir können die aktuellen Herausforderungen nicht mit dem traditionellen linearen und deduktiven Denken bewältigen, das in der Vergangenheit geholfen hat. Es braucht eine Vielzahl an motivierten und kreativen Köpfen, die neue Antworten finden.

Und der Grundstein soll in der Schule gelegt werden. Erwarten Sie nicht etwas viel von der Schule, wenn Sie die fixen Klassen und die Stundenpläne und die Pausen abschaffen und individuelle Förderung verankern wollen? Oder anders gefragt: Wird die Schule, die Sie sich wünschen, nicht viel teurer als die heutige?

Nein, keineswegs. Wenn mehr in Gruppen gearbeitet wird und persönliche Interessen stärker gewichtet werden, verlangt das zwar ein Umdenken bei den Lehrern, die Schule wird dadurch aber nicht zwangsläufig teurer. Oder sagen wir es so. Wenn Sie Fastfood und qualitativ hochwertiges Essen vergleichen, sollten Sie nicht nur den Endpreis anschauen. Der Preis eines Burgers ist zwar tief, die externen Kosten sind aber sehr hoch, wenn sie die Massentierhaltung inklusive Hormonen und Fertilisierung, die Verpackung, die Pestizide und alle anderen Faktoren berücksichtigen. So ist es auch bei der Schule. Standardisierung ist zwar effizient und bequem, aber nicht billig – der Schulfrust vieler Menschen, die Schere zwischen Akademikern und Nicht-Akademikern, die ADHS-Problematik, das alles wiegt schwer. Ich bin kein Romantiker, ich weiss, dass die Bildung ökonomische, kulturelle und soziale Ziele zu berücksichtigen hat.

Was ist in Ihren Augen das höchste Ziel der Bildung?

Dass die jungen Menschen nicht nur mit Wissen abgefüllt werden, sondern auch eine Ahnung davon erhalten, was in ihnen steckt und was durch sie in die Welt kommen könnte. Das macht auch die Aufgabe der Lehrer viel interessanter, als wenn sie primär Stoff vermitteln und Wissen abfragen.